R. Thalman: Keine Liebe ist an sich Tugend oder Laster

Cover
Titel
Keine Liebe ist an sich Tugend oder Laster. Heinrich Hössli (1784–1864) und sein Kampf für die Männerliebe


Herausgeber
Thalmann, Rolf
Reihe
Schriftenreihe der Heinrich Hössli Stiftung 1
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Florian G. Mildenberger

Die Erforschung der homosexuellen Emanzipationsbewegung und ihrer herausragenden Gestalter war über lange Zeit ein Kreisen um den Fixstern Magnus Hirschfeld. Er hatte Ende des 19. Jahrhunderts sein Engagement begonnen, als bürgerliche Gelehrte das Deutsche Reich dominierten und das Land sich an der Spitze des wissenschaftlich-technischen Fortschritts befand. Zeitgleich entfalteten sich eine Vielzahl sozialer Reformbewegungen, so dass die Emanzipation der Männerliebenden aus Sicht der Historiker gut in den Kontext der Zeit zu passen schien. Dieses Geschichtsbild bekam ernsthafte Risse, als in den 1990er Jahren Volkmar Sigusch den Juristen Karl Heinrich Ulrichs zum «ersten Schwulen der Weltgeschichte» kürte: Fern ab der Metropolen, sexuell selbstbewusster als es Hirschfeld jemals war und Begründer – und nicht Adept – einer wissenschaftlichen Erklärung der Entstehung von Homosexualitäten avancierte Ulrichs zum historischen Lieblingsschwulen in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Doch war er nicht der «Erste», vor ihm war Heinrich Hössli bedeutsam. Seine Werke waren zwar bereits in den 1990er Jahren neu ediert und kommentiert worden, aber er wurde in seiner Schweizer Heimat überhaupt nicht und in deutschen Gelehrtenkreisen nur höchst peripher wahrgenommen. Nun aber haben einige Schweizer «ihren» Hössli wieder entdeckt, eine «Heinrich Hössli Stiftung» gegründet und mit diesem Sammelband den bestehenden – noch recht bescheidenen – Forschungsstand zusammengefasst. Der Historiker Rolf Thalmann hat die Ausführungen historischer Autoren mit den Aufsätzen heutiger Gelehrter (zum Beispiel Marita Keilson-Lauritz oder Manfred Herzer) verknüpft, so dass sich ein kohärentes Bild der historischen Figur Heinrich Hössli bietet: ein liberaler Mann mit Geschäftssinn und dem Wunsch, verkrustete Strukturen in seiner Heimat aufzubrechen – und somit die Idealfigur im Sinne der Schweizer Selbstwahrnehmung. Der Nachwelt hinterliess er ein ursprünglich auf drei Bände angelegtes Werk «Eros», von dem zwei Bände erschienen sind. Seine wirtschaftlich prosperierende, gesellschaftlich aber lange rückschrittliche Heimat verliess Hössli allerdings bereits 1852, wobei der Streit um sein Buch eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hatte. In seinem von späteren Kritikern «weitschweifig» genannten Buch (S. 69) wiederholte Hössli Argumentationen antiker Autoren zugunsten der Männerliebe und verglich die Verfolgungen unter Einfluss der Kirche mit den Hexenprozessen.

Der an der Universität Passau lehrende Germanist Hans Krah analysiert die unbedingte Argumenationsweise Hösslis, der in der Gewährung von Liebe für alle Menschen die Gewährleistung für ein harmonisches Zusammenleben der Menschen erblickte. Für die Bestrafung homosexueller Männer war in diesem Denken kein Platz, ebenso wenig wie für eine das Privatleben der Menschen beeinflussende Kirche. Der Literaturwissenschaftler Robert Dean Tobin beschreibt, welche zentralen Begriffe für Hössli bedeutsam waren, z.B. Freundschaft, Sexualität oder Natur. Obwohl Autodidakt, verstand Hössli, dass er die bislang gebrauchten sprachlichen Konstrukte zur Erklärung der mannmännlichen Liebe nicht einfach weiter nutzen konnte, sondern sie neu einsetzen oder fassen musste. Für die Literaturhistorikerin Marita Keilson-Lauritz steht Hössli am Anfang dessen, was man später den «schwulen Kanon» nenne sollte: Die Aufzählung all jener Autoren der griechisch-römischen Antike sowie der aussereuropäischen (orientalischen) Gelehrten, die in der Liebe zwischen Männern nichts Verwerfliches sahen. Keilson-Lauritz gelingt es, Hösslis ursprüngliche Quellen und Übersetzungen der antiken Texte teilweise zu entschlüsseln und sie verweist auch auf einen wichtigen Unterschied zu späteren Forschern: Hössli war überzeugt, dass der negative Einfluss der christlich-jüdischen Lehre die Verfolgung der Homosexuellen erst auf die Tagesordnung der Gesellschaftspolitik gesetzt habe. Infolgedessen fehlt jeder Hinweis auf den Text «Davids Klage um Jonathan», der späteren Forschern wichtig sein sollte. Der Berliner Historiker Manfred Herzer schliesslich macht deutlich, wie zeitbezogen Hösslis Argumentation war. Er hatte den Aufklärer Johann Gottfried Herder ebenso wie den griechischen Philosophen Platon als verständnisvolle Advokaten der gleichgeschlechtlichen Liebe ausgemacht. Doch Herzer weist nach, dass Platon das, was man heute «Homosexualität » nennen würde, bestenfalls als nicht zu beseitigendes Übel ansah und bei Herder lassen sich ohnehin kaum Anhaltspunkte finden. Offenbar überschätzte Hössli das grundsätzliche Auftreten für Aufklärung Herders in seiner sexualitätsbezogenen Breitenwirkung. Gerade im Aufsatz von Herzer fällt auf, wie sehr Hösslis Anschauungen von heutigen Einschätzungen abweichen. Hössli trennte nicht zwischen Liebe und gelebter Sexualität – ihm fehlten sowohl Bildungshintergrund als auch Begriffe. Die Gelehrten seiner Zeit waren noch nicht so weit, wie er gehofft hatte. Von seinen Glarner Zeitgenossen, die nach Erscheinen des ersten Bandes des «Eros» nach der Zensur riefen, ganz zu schweigen.

Im Ganzen handelt es sich bei dem vorliegenden Werk um einen schönen Sammelband über einen lange verkannten und von Lokal- und Wissenschaftshistorikern ignorierten Privatgelehrten. Es wäre der historischen Figur «Heinrich Hössli» allerdings zu wünschen, dass er nicht in die Mühlen der nachträglichen Überhöhung und Geschichtspolitik gerät. Zu viel Identifikation schadet der historiographischen Genauigkeit – die Debatten um Magnus Hirschfeld sind hier ein gutes und warnendes Beispiel.

Zitierweise:
Florian G. Mildenberger: Rezension zu: Rolf Thalmann (Hg.), «Keine Liebe ist an sich Tugend oder Laster». Heinrich Hössli (1784–1864) und sein Kampf für die Männerliebe, Zürich: Chronos Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 484-485.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 484-485.

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